Die Rotpunkt-Aktion in Herford - eine unvollständige Chronologie |
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1.
Was vorher geschah...
Januar 1968. In den deutschen Universitätsstädten brodelt es seit geraumer Zeit. "Studentenunruhen" nennt es die Presse, und Nachrichten darüber gelangen natürlich auch in die ostwestfälische Provinz. Hier brodelt es nicht; hier ist die Ordnung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft noch weitgehend intakt - sieht man einmal davon ab, dass auch hier inzwischen die ersten langen Haare auftauchen. Wie viele der Nachrichten aus der großen weiten Welt nimmt man auch die aus Bremen gelassen zur Kenntnis, wo es aufgrund einer Fahrpreiserhöhung der Verkehrsbetriebe zu massiven Schüler- und Studentenprotesten gekommen ist. Tagelange Demonstrationen, Verkehrsblockaden, gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei - in Herford wird das höchstens mit verwundertem Kopfschütteln kommentiert. Gut, dass es das bei uns nicht gibt. Und es löst bei vielen Bürgern höchstens Erstaunen aus, dass die Bremer Proteste tatsächlich Erfolg haben und die Fahrpreiserhöhungen wieder zurückgenommen werden müssen. Juni 1969: Zum Monatsersten erhöhen die Hannoveraner Verkehrsbetriebe ÜSTRA die Fahrpreise um 33 Prozent. Was nicht erhöht wird, sind die Preise für Schülermonatskarten - so hofft man, Proteste wie im Vorjahr in Bremen zu vermeiden. Ohne Erfolg: Ein Bündnis aus Studenten, Schülern und politischen Organisationen beginnt bald, Hannoveraner Verkehrsknotenpunkte zu blockieren und den Straßenbahnverkehr lahm zu legen. Als Ersatz für den ausgefallenen Bahn- und Busverkehr hatte man sich die Rote-Punkt-Aktion ausgedacht: Zehntausende von handtellergroßen roten Punkten auf weißem Grund werden an die Autofahrer ausgegeben, die sie an der Windschutzscheibe befestigen und damit signalisieren: ich nehme Einsteiger mit. Als die Polizei versucht, die Blockierer mit Wasserwerfern und Knüppeleinsatz zu vertreiben, geschieht das Unerwartete: Die Bevölkerung Hannovers solidarisiert sich mit den Demonstranten. Es sind nicht mehr Hunderte, sondern auf einmal Tausende von Menschen, die sich vor die Straßenbahnen und Busse setzen, um sie an der Weiterfahrt zu hindern. Das zwingt die Politiker, die Polizei zurückzupfeifen, weil "die Böcke nicht mehr von den Schafen zu trennen seien", wie der Einsatzleiter bemerkt. Gewerkschaften, Jusos und Großbetriebe schließen sich der Aktion an. Eine Woche lang herrscht auf Hannovers Straßen fröhliche Anarchie - dann werden die Fahrpreiserhöhungen nicht nur zurückgenommen, sondern die Tarife sogar gesenkt und das gesamte Tarifsystem vereinfacht. Solche Nachrichten stoßen in Herford schon auf mehr Interesse, zumindest unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich im Zuge der APO-Bewegung auch in der fernen Provinz politisiert haben. Zudem liegt Hannover nicht so weit entfernt; schnell ist man mit dem Auto dort, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen von der "macht des Volkes". Auch aus Heidelberg dringen Nachrichten einer Rotpunkt-Aktion nach Ostwestfalen, die allerdings schnell und erfolgreich beendet wird; die Staatsmacht und die Politiker sind schließlich nicht dumm, wenn sie merken, woher der Wind wehen könnte.
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