Die Rotpunkt-Aktion in Herford - eine unvollständige Chronologie (2)

 

 

2. "Ein Monopol Räubert"

März 1970. Die Ankündigung der Elektrizitätswerke Minden-Ravensberg (EMR), zum 1. April die Fahrpreise für den Omnibusverkehr zu erhöhen, stößt in der Öffentlichkeit auf Kritik. In zahlreichen Leserbriefen an die Lokalzeitungen sprechen sich die Herforder Bürger gegen die Preiserhöhung aus. Was viele vor allem erzürnt: ÖTV-Chef Kahl hat im EMR-Aufsichtsrat ebenfalls für die Tariferhöhung gestimmt.

Die geplanten Preissteigerungen sind beträchtlich und treffen vor allem die Inhaber von Monatskarten. Eine Monatskarte von bisher 12 Mark 50 steigt um 95 Prozent auf 24 Mark; eine Monatskarte von 22 Mark steigt um 45 Prozent auf 32 Mark, und eine von 13 Mark 50 um 65 Prozent auf 24 Mark. Außerdem sollen auch die Preise für Einzelfahrscheine steigen.

Ebenfalls im März haben die ehemals in der "aktion 49" zusammengeschlossenen Schüler und Studenten darüber beraten, wie sie sich gegenüber der Preiserhöhung verhalten sollen. Das Beispiel der erfolgreichen Rotpunkt-Aktion in Hannover spukt natürlich im Hinterkopf herum - aber kann das hier in Herford, der gesitteten und ordentlichen Provinz, funktionieren? Zudem ist man zahlenmäßig kaum dazu in der Lage, eine solche Aktion aufzuziehen. Und es fehlt auch ganz einfach an Geld. Wer soll die roten Punkte bezahlen?

Da erweist es sich als ausgesprochener Glücksfall, dass sich kurz vor dem 1. April eine Handvoll junger Gewerkschaftsmitglieder bei den Schülern meldet, um gemeinsam über Möglichkeiten der Gegenwehr zu beraten. Ein erstes Treffen findet im Jazzclub in der Komturstraße statt, der damals als inoffizieller Treffpunkt der politisch Aktiven dient. Schnell ist man sich einig: Wir versuchen es! Die Gewerkschafter haben Kontakte zu einer Druckerei, die umgehend rote Punkte herstellen kann; außerdem werden sie Flugblätter vor den Betrieben verteilen. Kurz wird noch darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, die Aktion ohne rote Punkte zu beginnen und wie viele gebraucht werden; man einigt sich auf ein paar hundert, denn so ganz traut man der Bereitschaft der Herforder Bevölkerung nicht, sich massenhaft an einer solchen Aktion zu beteiligen.

Während sich die einen um die Organisation der Punkte kümmern, formuliern die anderen ein erstes gemeinsames Flugblatt, das anschließend direkt "hektographiert" wird, wie es damals üblich ist: Der Text wird mit Schreibmaschine auf eine so genannte Matrize geschrieben, die anschließend auf eine Druckwalze gespannt wird. Farbe kommt aus der Tube hinzu, dann kann die Vervielfältigung beginnen. Aber nicht nur im Jazzclub werden am Vorabend der Preiserhöhung Flugblätter hergestellt, auch aus der Gewerkschaftsjugend finden sich anderswo Freiwillige zusammen, die ebenfalls einen eigenen Aufruf verfassen.

So kommt es, dass am 1. April, dem ersten Tag der Preiserhöhung, gleich mehrere Flugblätter verteilt werden. Morgens für vor den Betrieben, tagsüber in der Stadt, vorwiegend um den Alten Markt herum, den Knotenpunkt des EMR-Busverkehrs. Der Tenor ist identisch: Forderung nach Rücknahme der Preiserhöhung und Aufforderung an die Bürger, die Busse zu boykottieren. Und gleichzeitig der erste Appell an die Autofahrer, sich solidarisch zu zeigen:

"Wir fordern Sie auf, die noch zur Verteilung kommenden "roten Punkte" an Ihren Autos zu befestigen, um damit Ihre Bereitschaft zu bekunden, auf Ihrer Strecke Personen, die den gleichen Weg haben, mitzunehmen."

Noch sind die roten Punkte nicht aus der Druckerei eingetroffen; noch zweifeln die Initiatoren der Aktion an einem Erfolg. Schließlich waren Bremen, Hannover und Heidelberg Großstädte; dagegen erstreckt sich das EMR-Streckennetz über vergleichbar dünn besiedelte Räume: Herford, Bad Salzuflen, Bad Oeynhausen, Bünde, Hiddenhausen, Löhne, Minden. Wie soll das alles lahmgelegt werden?

Aber der Rhetorik tut das keinen Abbruch. "Das ist kein Aprilscherz" heißt es auf den Flugblättern, und, in Anspielung auf die Abkürzung EMR: "Ein Monopol räubert". Und siehe da: Die Reaktion der Herforder Bürger ist fast ausnahmslos positiv, und auch der DGB-Kreis Herford fordert seine Mitglieder bereits am Nachmittag des 1. April dazu auf, sich an der Rotpunkt-Aktion, die noch gar nicht begonnen hat, zu beteiligen.

Euphorisch versammelt man sich abends im Jazzclub. Es hat den Eindruck, als könnte das Rotpunkt-Prinzip auch in der Provinz funktionieren - wenn nur endlich die roten Punkte da wären. Am nächsten Morgen sollen sie endlich ausgeliefert werden. Dann wird man ja sehen....


   

Informationsstand auf dem Alten Markt

 

Rotpunkt-Service am Alten Markt

 

Rotpunkt-Service am Alten Markt